Sonntag, 23. August 2015

"Mein künftiger Mann sitzt im Gefängnis"

Was mich hier in Russland irgendwie vielmehr umtreibt als Architektur oder Landschaften, sind die unzähligen Geschichten der Leute, die ich getroffen habe. Viele Geschichten sind positiv, viele aber auch sehr traurig.

Und aus irgendeinem Grund treffe ich immer wieder Leute, die entweder brutale Gewalt in der Familie erlebt haben oder bei denen irgendwer aus der Familie im Knast sitzt. Meistens sind die Frauen die Leidtragenden, andererseits muss man natürlich auch schauen, mit wem man sich einlässt.

Ich möchte diese Geschichten nicht vergessen und finde sie interessant, weil sie erstens zeigen, wie gut es mir und den meisten von uns eigentlich geht, und sie zeigen, wozu Menschen fähig sind in Extremsituationen. Daher schreibe ich hier die eindrücklichsten Geschichten nieder.

Sowjetskaja Gawan, grüngraue Einöde am Pazifik mit großem Gefängnis (nicht auf dem Bild)
Da ist zunächst mal Elisaweta, eine Akademikerin Ende 30 aus Irkutsk. Elisaweta hat bis vor wenigen Jahren mit ihrem Freund in einem anderen Land gelebt. Dann ist sie aus familiären Gründen zurück nach Russland gegangen, geplant war das zunächst vorübergehend. Doch dort hat sie dann gemerkt, dass das mit dem Freund nicht mehr funktioniert und hat sich getrennt. Der Freund hat dann kurzerhand aus Rache Nacktfotos von Elisaweta ins Internet gestellt, mit vollem Namen, Telefonnummer und E-Mail-Adresse. "Männer haben mir geschrieben, so habe ich das dann gemerkt." Heute hat sie eine komplizierte, lange E-Mail-Adresse, damit der Ex auf keinen Fall auf ihre neue Adresse kommen kann.

Damit nicht genug. Ich erzähle ihr zufällig von dem Schicksal des 16jährigen Mädchens, die ich im Zug kennengelernt habe, als sie mit Tante und Opa den Papa im Knast von Sowjetskaja Gawan besuchen fuhr. Da erwähnt Elisaweta zunächst, dass irgendein entfernter Verwandter auch 9 Tage im Knast ist, das bekäme man bei Mord oder Totschlag, hab vergessen, was genau. Dann sage ich: "Es ist irgendwie krass, so viele Leute, die ich hier kennenlerne, haben Verwandte oder Freunde im Gefängnis - das Mädchen war ja nur ein Beispiel von mehreren."

Sie: "Ja, mein Mann ist auch im Gefängnis. Das heißt - mein zukünftiger Mann."
Ich: "Wie lange sitzt er denn da schon?"
Sie: "Fünf Jahre. Er muss noch 2 Jahre sitzen, seine Strafe wurde um 2 Jahre reduziert." (die Gründe für die Linderung verschweige ich hier mal der Privatsphäre wegen).
Ich: "Fünf Jahre schon? Ich dachte, vor fünf Jahren warst du noch in [dem anderen Land] mit deinem früheren Freund?"
Sie: "Wir haben uns vor einem halben Jahr kennengelernt."
Ich: "Aber er ist doch schon seit fünf Jahren im Gefängnis? Wie habt ihr euch denn da kennengelernt?"
Sie: "Über eine Partnerbörse im Internet."
Ich: "Krass, ich hätte gar nicht gedacht, dass man hier im Gefängnis einfach so im Internet surfen und sogar Dating-Plattformen nutzen kann?"
Sie: "Ja, es geht nicht überall, aber dort schon."
Ich: "Und du hast gesagt, er sei dein zukünftiger Mann?"
Sie: "Ja. Wir werden bald heiraten, damit ich ihn besuchen kann. Besuch ist nur von engen Verwandten erlaubt."
Ich: "Weißt du, wieso er im Knast ist?"
Sie: "Er ist sehr stark. Als es eine Schlägerei gab, wollte er einen anderen verprügeln und hat ihn versehentlich totgeschlagen."

Mir bleibt die Sprache weg. Später erzählt sie mir noch, wie die Gefängniswachen manchmal die Geschenke, die sie ihm schickt, konfiszieren, manchmal aber auch nicht.

[sämtliche Namen und Ortschaften wurden verfremdet]

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